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Trainieren mit Landkarten
Warum Modelle im Sport notwendig, nützlich und gefährlich sind

Ich weiß noch ganz genau, wie ich damals den ersten Jahresplan für meine Trainingsgruppe erstellt habe. Ich habe mir Mühe gegeben und alles beachtet, was mir von Dozenten, Lehrbüchern, trainingswissenschaftlichen Artikeln und anderen Trainern angeleitet wurde. Alles war strukturiert und sauber gegliedert: Saisonhöhepunkte, Grundlagentraining, Mikrozyklen, Makrozyklen, präzise Planung von Volumen und Intensität, sogar Klausurphasen habe ich beachtet – ich war so gut vorbereitet wie noch nie. Ich hatte mir eine Landkarte geschaffen, an der ich meine Gruppe erfolgreich durch die Saison führen konnte. Alles war unter Kontrolle. Und die Bestleistungen kamen. Marc sprintete die 100 Meter fast zwei Zehntel schneller … allerdings schon im ersten Wettkampf und ganz ohne Taper-Phase. Johanna hingegen wurde krank, konnte zwei Wochen nicht trainieren und verpasste den wichtigsten Wettkampf in der Saison. Besonders frustrierend war, dass Jana (14 Jahre, 1,62m), obwohl ich ihr hunderte von Videos von der optimalen Technik gezeigt hatte, immer noch nicht so hochsprang wie Mutaz Essa Barshim.
Meine Pläne gingen nicht auf. Ich musste feststellen, dass meine Modelle keine Antworten auf die Wirklichkeit hatten, eine Tatsache, die sich bereits Wochen nach Beginn des Plans abzeichnete. Ich hatte auf meiner Landkarte eine gerade Linie gezogen und war verwundert, als ich im Gelände der Realität über Stöcke und Steine stolperte.
Im Folgenden möchte ich zeigen, wie ein zu starres Festhalten an Modellen uns und unseren Athlet:innen schaden kann und wie ein Grundverständnis von modelltheoretischen Aspekten dabei hilft, besser zu trainieren.
Was sind Modelle?
Modelle begegnen uns häufig und in verschiedensten Formen. Es gibt beispielsweise die Modelleisenbahn, das Bohr‘sche Atommodell, das „Hamburger Modell“ der lerntheoretischen Didaktik, ökonomische Prognosemodelle oder auch den oder die Modellathlet:in. Doch was genau macht ein Modell aus? Laut Stachowiak [1] besitzen Modelle drei Merkmale:
1. Das Abbildungsmerkmal
2. Das Verkürzungsmerkmal
3. Das pragmatische Merkmal
Das Abbildungsmerkmal beschreibt, dass das Modell etwas „Echtes“ repräsentiert. Es ist eine Darstellung einer Sache aus der Wirklichkeit. Die Modelleisenbahn ist eine Abbildung einer echten Eisenbahn. Diese Abbildung ist aber nie komplett identisch mit der echten Sache. Wäre sie das, so wäre es eine Kopie. Modelle sind immer vereinfachte bzw. verkürzte Darstellungen des Originals. Diese Verkürzung dient der Reduktion von Komplexität. Inwiefern ein Gegenstand in einem Modell reduziert wird, hängt davon ab, wie das Modell verwendet werden soll (pragmatisches Merkmal). Modelle sind nämlich immer von jemandem zu einem bestimmten Zweck geschaffen. Das erklärt auch, wieso es für dieselbe Sache verschiedene Modelle geben kann. Stau kann mathematisch modelliert werden, beispielsweise mit Hilfe des Lighthill-Whitham-Richards-Modells [2]. Verkehr ist wie eine Flüssigkeit: Wird die Dichte zu hoch, sinkt die Fließgeschwindigkeit und es entsteht Stau. Stau kann aber auch soziologisch betrachtet werden. Gesellschaftliche Rhythmen wie Schul- und Arbeitszeiten, aber auch die Struktur des urbanen Raums beeinflussen den Verkehrsfluss und die Staubildung. Ebenso kann Nahrungsaufnahme auf biochemische Makro- und Mikronährstoffe heruntergebrochen, als verhaltens-psychologisches Modell mit Einfluss von Emotionen und Gewohnheiten dargestellt oder technisch ökonomisch durch Lebensmittelverfügbarkeit und Preis-Leistungs-Verhältnisse modelliert werden. Welches dieser Modelle wir nutzen, ist keine objektive und neutrale Entscheidung, sondern eine bewusste Wahl. Diese Wahl hängt nicht nur von reiner Objektivität ab, sondern auch von anderen Faktoren wie Plausibilität, Einfachheit, Nutzen oder Geschichte [3].
Alle Modelle sind falsch – die Gefahr der Reifikation
Es gibt also viele Möglichkeiten, eine Sache zu repräsentieren. Modelle können gut genutzt werden, um Phänomene zu beschreiben, zu erklären und zu versuchen, sie vorherzusagen. Sie können als effektiver Mediator – als eine Brücke – gesehen werden zwischen Theorie und der Sache [4]. Aber, wie bereits erwähnt, kann ein und dasselbe Phänomen aus unterschiedlichen Blickwinkeln beschrieben werden und keiner der Blickwinkel ist in der Lage, eine „vollkommene“ Darstellung der Sache zu liefern, ähnlich wie in dem alten buddhistischen Text von den sechs blinden Männern und dem Elefanten.

Die blinden Männer und der Elefant (Künstler G. Renee Guzlas)
Demnach lässt sich mit den Worten von George Box sagen: „Alle Modelle sind falsch, aber einige sind nützlich.“ [5]. Dies ist extrem wichtig zu verinnerlichen. Modelle sind eine verkürzte Abbildung der Realität. Sie sind Werkzeuge für einen bestimmten Zweck. Verstehen wir das nicht, so besteht die Gefahr der Reifikation [6]. Das Abstrakte wird mit dem Konkreten verwechselt. Konstrukte, die als „Notationshilfe“ dienen sollen, werden für eine genaue Beschreibung der Realität gehalten. Wer Modelle vergegenständlicht, läuft Gefahr, im Restaurant die Speisekarte zu verzehren.
Eine Einladung zur Modellkompetenz
Wenn alle Modelle falsch sind, warum nutzen wir sie dann überhaupt? Die Antwort ist ebenso simpel wie grundlegend: Weil wir gar nicht anders können. So schreibt Herbert Stachowiak: „[…] alle Erkenntnis [ist] Erkenntnis in Modellen oder durch Modelle, und jegliche menschliche Weltbegegnung überhaupt bedarf des Mediums ‚Modell‘“ [1]. Damit meint er nicht nur wissenschaftliche Erkenntnis, sondern jegliches Verstehen, Denken und Handeln. Sobald wir versuchen, die Welt zu begreifen, reduzieren wir sie. Wir abstrahieren, strukturieren, formen Vorstellungen. Jedes Gespräch, jede Beobachtung, jede Entscheidung ist geprägt von inneren Bildern, die wir uns machen. Modelle sind also keine Sonderfälle des Denkens – sie sind seine Grundbedingung [3].
Das bedeutet: Wir verstehen nicht trotz, sondern gerade durch Vereinfachung. Nur wenn wir etwas weglassen, wird das Wesentliche sichtbar. Ein Modell ist wie eine Taschenlampe im Dunkeln: Sie erleuchtet nicht alles, aber erhellt unser Verständnis in Bezug auf bestimmte Strukturen. Ein gutes Modell ist dabei nicht objektiv „korrekt“ oder „wahr“, sondern erkenntnisfördernd. Es stellt neue Fragen, macht Unterschiede relevant und fordert zur Auseinandersetzung auf [7].
Im wissenschaftlichen Kontext spricht man diesbezüglich häufig von der heuristischen Fruchtbarkeit [8]. Der Wert eines Modells liegt nicht darin, dass es wahr ist, sondern in seiner Produktivität. Es ist wertvoll, weil es die Welt auf eine Art ordnet, die neue Perspektiven erlaubt. Die Newton‘sche Mechanik zum Beispiel ist längst durch komplexere Theorien überholt worden, doch sie bleibt als Denkmodell nützlich. Niemand benutzt die allgemeine Relativitätstheorie in der biomechanischen Beschreibung eines Hammerwurfs, auch wenn diese Theorie rein theoretisch die „richtigere“ ist. Modelle, die etwas ermöglichen, sind wertvoll, auch wenn sie nicht endgültig sind.
Gerade in der Praxis – auch im Sport – ist das wichtig. Wir brauchen keine vollständigen Abbilder, sondern Orientierungen. Modelle können uns helfen, die Vielzahl an Einflussfaktoren zu strukturieren, Entwicklungen einzuschätzen oder die Wirkung eines Trainings zu reflektieren. Sie schaffen einen Rahmen, in dem wir sinnvoll beobachten, vergleichen und entscheiden können, und sie ermöglichen es uns, unsere impliziten Annahmen sichtbar zu machen. Denn ein Modell ist immer auch ein Spiegel unseres Denkens. Wer sich also bewusst mit Modellen auseinandersetzt, gewinnt nicht nur ein Werkzeug, sondern auch einen kritischen Blick auf die eigenen Denkgewohnheiten. Und genau darin liegt ihr größtes Potenzial für Erkenntnis [1, 4].
Was bedeutet das für uns?
Modelle sind Werkzeuge, keine Wahrheiten. Wie eine Brille können sie uns helfen, die Welt schärfer zu sehen. Doch jede Brille, ob Lese-, Sonnen- oder Taucherbrille, vermittelt ein unterschiedliches Bild. Wir sollten uns deshalb bewusst sein, welche Brille wir tragen. Unsere Sichtweise ist immer auch durch das Modell geprägt, durch das wir blicken. Und nicht jede Brille passt zu jeder Situation.
Deshalb ist es entscheidend, zu wissen, woher ein Modell stammt, wozu es dient – und wo seine Grenzen liegen. Manchmal braucht es keine neue Theorie, sondern nur eine neue Sichtweise. Nicht jedes Modell muss verworfen werden, aber jedes sollte regelmäßig hinterfragt werden.
Ich habe inzwischen gelernt, dass ich meine Trainingspläne nicht mit dem Lineal zeichnen kann. Ich arbeite nach wie vor mit Modellen, aber ich verstehe sie heute als Gerüst, nicht als Fundament. Sie bieten Orientierung, keine Musterlösung.
Stell dir selbst die Frage: Welche Modelle prägen mein Denken? Welche davon helfen mir und welche schränken mich ein? Nutze ich noch die richtigen Werkzeuge, oder nur die gewohnten?
Literatur
1 Stachowiak, H. (2012). Allgemeine Modelltheorie. Springer Vienna.
2 Treiber, M., & Kesting, A. (2013). The Lighthill–Whitham–Richards Model. In M. Treiber & A. Kesting (Eds.), Traffic Flow Dynamics: Data, Models and Simulation (pp. 81–126). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-32460-4_8
3 Stachowiak, H. (1980). Der Modellbegriff in der Erkenntnistheorie. Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, 11(1), 53–68. https://doi.org/10.1007/BF01801279
4 Fried, E. I. (2020). Theories and Models: What They Are, What They Are for, and What They Are About. Psychological Inquiry, 31(4), 336–344. https://doi.org/10.1080/1047840X.2020.1854011
5 Box, G. E. P. (1976). Science and Statistics. Journal of the American Statistical Association, 71(356), 791–799. https://doi.org/10.1080/01621459.1976.10480949
6 Kaplan, A. (2017). The Conduct of Inquiry: Methodology for Behavioural Science. Routledge. https://doi.org/10.4324/9781315131467
7 Godulla, A. (2017). Das Modell und seine Merkmale. In A. Godulla (Ed.), Öffentliche Kommunikation im digitalen Zeitalter: Grundlagen und Perspektiven einer integrativen Modellbildung (pp. 9–18). Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-14192-9_2
8 Lausen, F. (2014). Zum Begriff der heuristischen Fruchtbarkeit. In Zur heuristischen Qualität des Reduktionismus (pp. 99–117). Brill mentis. https://doi.org/10.30965/9783897859906_006