- Werfen Stoßen Wissen Schaffen
- Posts
- Pfadabhängigkeit
Pfadabhängigkeit
Wie frühe Entscheidungen unsere Trainingskultur formen – und warum Hinterfragen der erste Ausweg ist.

Wieso machen wir Dinge eigentlich so, wie wir sie machen? Häufig wird angenommen, dass gebräuchliche Praktiken solche sind, welche die optimale Lösung für unsere Probleme darstellen. Sie haben sich über die Zeit bewährt, wurden von Experten für gut empfunden und haben sich dementsprechend durchgesetzt und als Goldstandard etabliert. Diese Annahme ist leider falsch. Wieso das so ist, werde ich im Folgenden anhand von Affen, Kontinentalplatten und Digitalkameras erläutern.
Von Äffchen lernen: Wie Verhalten entsteht
Unser Verhalten und unsere Methoden tendieren nicht automatisch zum „Optimum“, sondern sind durch unsere jeweiligen Umstände geprägt. Dass das so ist, zeigte das Forscherteam um Tina Gunhold in zwei Studien an Familiengruppen von Weißbüscheläffchen. In einer initialen Studie [1] wurde den Affen beigebracht, Futter aus einer Kiste zu holen. Die Kiste konnte entweder durch Ziehen oder Drücken einer Klappe geöffnet werden. In einer Gruppe wurde die Kiste so manipuliert, dass die Affen nur ziehen konnten, die zweite Gruppe konnte die Klappe nur durch Drücken öffnen. Die Affen in der dritten Gruppe hatten keine Einschränkungen und konnten entweder ziehen oder drücken. Nach einer „Trainingsperiode“ wurden die Einschränkungen in Gruppe eins und zwei entfernt - alle Affen konnten nun frei wählen. Was sich jedoch zeigte, war, dass die Affen aus der „Drücker“-Gruppe weiterhin drückten und die „Zieher“-Gruppe weiterhin an der Klappe zogen, obwohl alle Affen beide Methoden entdeckten und obwohl Drücken effizienter war: Beim Ziehen wurde eine Hand zum Öffnen der Klappe gebraucht, während beim Drücken eine oder sogar beide Hände fürs Futter frei blieben.
Es zeigte sich: Die Affen entwickelten je nach ursprünglicher Einschränkung eine gruppen-spezifische Methode. „Zieher“-Äffchen blieben Zieher, „Drücker“ blieben Drücker – die anfänglichen Umweltbedingungen hatten sie geprägt und sie hielten daran fest, auch als die bessere Methode zur Verfügung stand. Und die Gruppe ohne Einschränkungen? Im Gegensatz zu den anderen Gruppen bildete sich hier keine gruppenspezifische Präferenz. Die Affen bevorzugten die Methode, mit der sie anfangs erfolgreich waren. Die Entstehung von Traditionen war also primär durch Umweltbedingungen und individuelle Erfahrungen bestimmt – nicht durch objektive „optimale“ Lösungen.

Ein Weißbüscheläffchen demonstriert das Ziehen (Foto von Tina Gunhold)
Aufbauend auf dieser Studie untersuchte das Forscherteam zwei Jahre später erneut das Verhalten [2]. Die Affen waren in der Zwischenzeit nicht mehr mit der Futterbox konfrontiert worden und es waren neue Gruppenmitglieder hinzugekommen (neugeborene oder immigrierte Affen). Trotz der langen Zeit erinnerten sich die Affen sofort an das damals von ihnen gewählte oder antrainierte Verhalten – Zieher zogen, Drücker drückten. Die neuen Affen orientierten sich an der jeweils dominanten Gruppentechnik, und das, obwohl ihnen die Möglichkeit sowohl zum Ziehen als auch zum Drücken offenstand. Trotz der höheren Effizienz der Drücken-Methode blieb das Verhalten der Affen stabil. Einmal erlernt, war ein Methodenwechsel selten – selbst, wenn eine andere Technik effizienter gewesen wäre. Das ursprünglich durch Umwelt oder soziales Lernen geprägte Verhalten wurde zur Gewohnheit – und mit der Zeit zur Tradition. Unabhängig davon, ob es optimal war. Die Vergangenheit bestimmt also die Zukunft – oft mehr, als rational wäre. Dieses Phänomen nennt man Pfadabhängigkeit [3].
Nun kann man zu Recht in Frage stellen, ob das Verhalten von Affen repräsentativ ist für das Verhalten von Menschen. So sind wir doch die „Weisen“ unter den Affen und deutlich intelligenter und reflektierter. Oder?
Der lange Weg zur Plattentektonik: Warum selbst richtige Ideen scheitern können
Die Existenz des Urkontinents „Pangea“ und die Theorie der Kontinentalverschiebung sind inzwischen allgemein anerkanntes Wissen. Das war aber bis vor gar nicht so langer Zeit noch nicht der Fall.

Antonio Snider-Pellegrinis Darstellung des geschlossenen und geöffneten Atlantiks (1858)
Beobachtungen, dass Kontinente, ähnlich wie Puzzleteile, zusammenpassen, gab es, seit wir den kompletten Globus kartographieren konnten [4]. Eine erste Theorie, dass Kontinente sich bewegen, wurde 1912 vom deutschen Astronomen und Meteorologen Alfred Wegener vorgeschlagen [5]. Wegener demonstrierte Ähnlichkeiten in den Verläufen von Bergketten, der Verteilung von Fossilien und der Lokation von Gesteinsarten. Seine Ansichten wurden jedoch kontrovers gehandelt und erst viel später, nach seinem Tod, akzeptiert. Woran lag das? Zum einen war Wegener kein Geologe, was seine Ansichten in den Augen vieler (Geologen) diskreditierte. Das größere Problem war aber, dass er nicht beweisen konnte, wie die Kontinentalplatten auseinanderdriften konnten. Erklärungsversuche erwiesen sich als zu schwach (im wortwört-lichen Sinne), um eine mögliche Verschiebung der Platten erklären zu können [6].
Die verzögerte Akzeptanz von Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung lässt sich nicht allein durch mangelnde Beweise erklären, sondern auch durch eine Reihe tief verwurzelter wissenschaftlicher Prinzipien und Modelle, die damals das geologische Denken bestimmten. Zum einen verteidigten viele Geologen eine induktive und pluralistische Haltung, die sich gegen Wegeners theoriegeleiteten Ansatz stellte. Statt einer großen Erklärungsidee – wie der Kontinentaldrift – bevorzugten sie eine Vielzahl kleiner, lokal begründeter Hypothesen, die aus Feldbeobachtungen abgeleitet wurden. Wegener erschien ihnen zu spekulativ. Zudem sprach das damals anerkannte Pratt-Modell der Isostasie gegen die Möglichkeit einer Kontinentalverschiebung [7]. Dieses Modell ging von einer gleichgewichtigen Lagerung der Erdkruste aus, was bedeutete, dass massive Bewegungen der Kontinente physikalisch als nahezu ausgeschlossen galten. Schließlich prägte der Aktualismus – das Prinzip, dass geologische Prozesse heute in ähnlicher Weise wirken wie in der Vergangenheit – die Interpretation von Felddaten so stark, dass dramatische, großräumige Veränderungen wie die Verschiebung von Kontinentalplatten kaum vorstellbar waren. Dieses Denkmuster legte den Fokus auf langsame, kontinuierliche Entwicklungen und erschwerte den Blick für globale, dynamische Prozesse.
Erst in den 1960er Jahren, insbesondere vorangetrieben durch militärische Interessen und Finanzierung [8], wurden von Marie Tharp und Bruce Heezen der Mittelatlantische Rücken entdeckt [9]. Es konnte nachgewiesen werden, dass neuer Meeresboden entstand, und Magnetisierungs-muster im Meeresboden, die vorher für Anomalien gehalten wurden, konnten durch die Vine-Matthews-Morley-Hypothese [10] erklärt werden. Ohne funktionierende Gegenhypothese und im Angesicht der immer größer werdenden Beweislage, waren die Gegner der Kontinental-verschiebung gezwungen, zu akzeptieren, dass sie falsch lagen1. Die Plattentektonik war zum Axiom der modernen Geophysik geworden.
Auch wenn wir intelligenter sind als Weißbüscheläffchen, so sind wir trotzdem anfällig für (institutionelle) Pfadabhängigkeit. Frühere Erklärungsmodelle und Paradigmen schufen einen epistemologischen Pfad, von dem sich geweigert wurde, abzuweichen – trotz gegenteiliger Indizien. Wie wir sehen, ist was wir sehen. Das Gelernte wurde zur Linse, durch die man alles sah, oder anders gesagt: Mit einem Hammer wird alles zu einem Nagel.
Filmkameras, der Sport und das Problem mit der Tradition
Dass das Phänomen der Pfadabhängigkeit existiert und dass auch wir Menschen davon nicht gefeit sind, sollte inzwischen deutlich sein. Was vielleicht nicht klar ist: Wieso ist Pfadabhäng-igkeit schlecht? Immerhin musste keiner der Affen verhungern und die „richtige“ Theorie hat sich ja schlussendlich doch durchgesetzt. Um das zu verstehen, gucken wir uns Kameras an.

Die erste tragbare Digitalkamera, entwickelt von Kodak Mitarbeiter Steve Sasson [11]
Kodak war die dominante Kraft im Bereich der Fotografie für den Großteil des 20. Jahrhunderts. Die Firma war im Wesentlichen für die Entwicklung von handelsüblichen Kameras verantwortlich und war ein Pionier in der Filmindustrie. Kodak hatte sich, basierend auf Filmkameras, eine massive Infrastruktur, Lieferketten und Marketingstrategien aufgebaut. Die hohen Investitionen in das bestehende System und die vergangenen Erfolge sorgten für eine gewisse Sicherheit und Trägheit, die Kodak zum Verhängnis wurden. Obwohl Kodak eine der ersten Firmen war, die bereits in den 70er Jahren erste digitale Film- und Fototechnologien entwickelte, hielt sie fest an dem traditionellen und etablierten Weg des Films. Im Gegensatz dazu setzte die Konkurrenz auf digital. Als Kodak seinen Fehler einsah und versuchte, sich neu auszurichten, war es zu spät. 2012 meldete das Unternehmen Insolvenz an [12].
Was bedeutet das für uns Trainer:innen? Was für Konzerne wie Kodak galt, gilt auch im Sport: Wer zu lange an alten Erfolgen festhält, wird irgendwann überholt. Die meisten von uns haben das, was wir über den Sport und das Training wissen, gelernt, durch eigene Erfahrungen und durch institutionalisiertes Wissen, das seit Jahrzehnten traditionell und unhinterfragt weitergegeben wird. Betrachtet man beispielsweise das Literaturverzeichnis des Rahmentrainingsplans BASICS vom DLV [13], so findet man keine Quellenangabe nach 2010 und der Nachweis über „Modernes Training weltbester Mittel- und Langstreckler“ stammt aus dem Jahr 1972 [14]. Das bedeutet nicht, dass „altes“ Wissen nicht nützlich ist oder wir etablierte Trainingsmethoden abschaffen und durch neue innovative Ansätze ersetzen sollten. Was wir aber tun sollten ist, den historischen und sozialen Kontext zu kennen, in dem und durch welchen Trainingsmethoden entstanden sind, und zu reflektieren, ob dieser Kontext heutzutage noch relevant ist. Vielleicht sollten wir Methoden anpassen oder eben doch abschaffen. Sind wir dazu nicht in der Lage, könnte es sehr gut passieren, dass wir uns auf der falschen Seite eines Paradigmenwechsels befinden [15]. Um es in den Worten von Max Planck zu sagen: „Eine neue große wissenschaftliche Idee pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner allmählich überzeugt und bekehrt werden – dass aus einem Saulus ein Paulus wird, ist eine große Seltenheit – sondern vielmehr in der Weise, dass die Gegner allmählich aussterben und dass die nachwachsende Generation von vornherein mit der Idee vertraut gemacht wird.“
In hyperkompetitiven Umfeldern, die sich immer weiterentwickeln, bedeutet eine mangelnde Anpassungsbereitschaft – ein Stillstand – den Untergang. Ruht man sich auf den vertrauten Systemen und den Lorbeeren der Vergangenheit aus, so ist man auf einmal der letzte Angleiter in einem Finale voller Drehstoßer und danach, obwohl man jahrzehntelang als Kugelstoßnation galt, gar nicht mehr im Finale.
Fazit
Wir alle bewegen uns auf Pfaden – durch unser Denken, unsere Routinen, unsere Trainingspläne. Der erste Schritt zur Veränderung ist, diese Pfade zu erkennen. Der zweite: sie bewusst zu verlassen. Vielleicht ist es an der Zeit, den Umweg zu nehmen, der uns weiterbringt.
Two roads diverged in a wood, and I—
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.
Als Trainer:innen haben wir die Verantwortung, nicht nur weiterzugeben, was wir selbst gelernt haben – sondern auch zu hinterfragen, ob es noch zeitgemäß ist. Sonst laufen wir Gefahr, Trainingspläne von gestern auf die Athlet:innen von morgen anzuwenden.
Literatur
1 Pesendorfer, M. B., Gunhold, T., Schiel, N., Souto, A., Huber, L., & Range, F. (2009). The Maintenance of Traditions in Marmosets: Individual Habit, Not Social Conformity? A Field Experiment. PLOS ONE, 4(2), e4472. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0004472
2 Gunhold, T., Massen, J. J. M., Schiel, N., Souto, A., & Bugnyar, T. (2014). Memory, transmission and persistence of alternative foraging techniques in wild common marmosets. Animal Behaviour, 91, 79–91. https://doi.org/10.1016/j.anbehav.2014.02.023
3 Mahoney, J. (2000). Path Dependence in Historical Sociology. Theory and Society, 29(4), 507–548.
4 Romm, J. (1994). A new forerunner for continental drift. Nature, 367(6462), 407–408. https://doi.org/10.1038/367407a0
5 Wegener, A. (1912). Die Entstehung der Kontinente. Geologische Rundschau, 3(4), 276–292. https://doi.org/10.1007/BF02202896
6 Epstein, P. S. (1921). Über die Polflucht der Kontinente. Naturwissenschaften, 9(25), 499–502. https://doi.org/10.1007/BF01494987
7 Hunter, J. de G. (1932). The Hypothesis of Isostasy. Geophysical Supplements to the Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 3(1), 42–51. https://doi.org/10.1111/j.1365-246X.1932.tb03657.x
8 Oreskes, N. (2021). Science on a Mission: How Military Funding Shaped What We Do and Don’t Know about the Ocean (First Edition). University of Chicago Press.
9 Heezen, B. C., Tharp, M., & Ewing, M. (1959). The Floors of the Oceans: I. The North Atlantic. In B. C. Heezen, M. Tharp, & M. Ewing (Eds.), The Floors of the Oceans: I. The North Atlantic (Vol. 65, p. 0). Geological Society of America. https://doi.org/10.1130/SPE65-p1
10 Vine, F. J., & Matthews, D. H. (1963). Magnetic Anomalies Over Oceanic Ridges. Nature, 199(4897), 947–949. https://doi.org/10.1038/199947a0
11 Lloyd, G. a, & Sasson, S. J. (1978). Electronic still camera (Patent US4131919A).
12 Merced, M. J. de la. (1326953579). Eastman Kodak Files for Bankruptcy. DealBook. https://dealbook.nytimes.com/2012/01/19/eastman-kodak-files-for-bankruptcy/
13 Killing, W., Chounard, D., Heß, W.-D., Jakobs, K., & Woess, P. (with Deutscher Leichtathletik-Verband). (2024). Jugend-Leichtathletik: Rahmentrainingsplan des Deutschen Leichtathletik-Verbandes für die disziplinenübergreifenden Grundlagen im Aufbautraining: Basics (2. Auflage). philippka.
14 Nett, T. (1972). Modernes Training weltbester Mittel- und Langstreckler (4. Aufl.). Bartels & Wernitz.
15 Kuhn, T. S., & Hacking, I. (2012). The Structure of Scientific Revolutions: 50th Anniversary Edition (Fourth edition). University of Chicago Press.
1 Streng genommen mussten sie das nicht, und viele taten es auch nie